Das unzufriedene Gänseblümchen

ein einzelnes Gänseblümchen

(eine Geschichte von ungefähr 1990)

Es war einmal ein Gänseblümchen, das war sehr, sehr unzufrieden mit sich. Den ganzen Tag stand es auf der Wiese und seufzte und sagte zu sich selbst:

„Ich armes, unbedeutendes kleines Gänseblümchen! Wie unscheinbar ich doch bin! Wem nutze ich schon etwas? Wenn Kinder auf der Wiese spielen, trampeln sie nur achtlos auf mir herum, und wahrscheinlich werde ich eines Tages von einer Kuh gefressen. Wenn ich doch wenigstens ein bisschen schöner wäre oder gut riechen würde, dann könnte ich vielleicht einem Menschen eine Freude machen.“

Tag für Tag wurde das Gänseblümchen unzufriedener, und eines Morgens fasste es den Beschluss, loszugehen und zu sehen, ob es von anderen Blumen etwas lernen könnte.

Und so ging es und ging, bis es auf einmal etwas Wunderschönes sah. Es war eine Rose.

„Oh, Rose, bist du schön! So etwas habe ich noch nie gesehen! So möchte ich auch aussehen! So ein schönes Rot!“

Das Gänseblümchen ging ganz nahe an die Rose heran, um sie besser zu sehen. Doch – autsch! Was war das? Verdutzt hielt sich das Gänseblümchen die schmerzende Nase. Da fing die Rose an zu weinen:

„Ja, liebes Gänseblümchen, ich bin zwar sehr schön, aber immer muss ich die Menschen stechen, wenn sie mir zu nahe kommen. Niemand kann in meine Nähe, weil ich Dornen habe. Ich bin ganz allein.“

Da wurde das Gänseblümchen ganz traurig und sagte:

„Weißt du, Rose, ich habe dich um deine Schönheit beneidet. Aber wenn der Preis dafür ist, dass du alle stechen musst, dann will ich doch nicht so sein wie du. Dann muss ich noch weiter suchen. Aber warte, ich habe eine Idee!“

Das Gänseblümchen riss sich ein paar seiner Blütenblätter aus und verband damit die Dornen der Rose.

„So, jetzt musst du niemandem mehr wehtun. Leb wohl, Rose!“

Die Rose bedankte sich überschwänglich beim Gänseblümchen, und das Gänseblümchen umarmte die Rose zum Abschied und zog weiter seines Wegs.


Nach einer Weile hörte es aus der Ferne ein fürchterliches Geschrei. Neugierig, wer da wohl so schreien könnte, ging es weiter in die Richtung, aus der der Lärm kam, und gelangte an einen Holunderstrauch, der wunderbar duftete.

„Ach, ihr Blüten! Ihr duftet vielleicht gut! So möchte ich auch riechen! Aber warum schreit ihr denn so?“

Da ging das Geschrei gleich noch viel stärker los, denn alle Blüten wollten dem Gänseblümchen auf einmal antworten, und es verstand kein Wort.

„So geht das nicht!“, sagte das Gänseblümchen. „Kann nicht eine einzige Blüte mir antworten?“

Das Geschrei wurde noch stärker, denn jetzt stritten die Blüten darum, wer von ihnen dem Gänseblümchen antworten sollte. Schließlich ging das Gänseblümchen auf die nächstbeste Blüte zu und fragte sie, was denn hier los sei.

Nachdem der Protest der anderen ein bisschen abgeebbt war, konnte das Gänseblümchen auch die Antwort verstehen:

„Wir streiten darum, wer von uns am besten duftet. Kannst du nicht Schiedsrichter sein zwischen uns?“

„Na gut“, sagte das Gänseblümchen, „ich kann’s versuchen. Ich werde an jeder einzelnen Blüte riechen, und diejenige, die am besten riecht, bekommt ein Blütenblatt von mir als Auszeichnung. Aber ihr müsst mir versprechen, dass ihr dann nicht mehr darüber streitet.“

Ausnahmsweise waren alle Blüten einverstanden, und so machte sich das Gänseblümchen daran, an allen Blüten zu riechen. Das nahm eine lange Zeit in Anspruch.

Der Abend kam, und das Gänseblümchen legte sich schlafen. Am nächsten Morgen machte es gewissenhaft dort weiter, wo es aufgehört hatte. Keine einzige Blüte ließ es aus.

Am Abend war es endlich fertig. Es setzte sich hin und fing an zu überlegen. Es überlegte die ganze Nacht hindurch und den ganzen nächsten Tag und noch einmal eine Nacht.

So still waren die Holunderblüten noch nie gewesen, denn alle warteten gespannt auf eine Entscheidung.

Endlich stand das Gänseblümchen auf und riss sich ein Blütenblatt aus. Die Holunderblüten hielten den Atem an. Das Gänseblümchen nahm sein Blütenblatt und zerteilte es in viele, viele winzige Stücke – genau so viele, wie es Holunderblüten waren – und gab jeder Blüte ein Stück davon und sagte:

„Ihr riecht alle genau gleich gut. Es ist keine unter euch, die mir besser gefallen würde oder schlechter als die anderen. Ich habe euch um euren schönen Duft beneidet, aber ich habe gesehen, wie euch der Stolz die Herzen verhärtet hat. Nein, so will ich nicht werden. Ich muss weitersuchen. Lebt wohl!“

Ein bisschen traurig ging es weiter, und die Holunderblüten schwiegen betroffen und versuchten von dem Tag an, untereinander Frieden zu halten.


Als das Gänseblümchen gedankenverloren weiterging, kam es schließlich zu einem Löwenzahn.

„Ui! Was ist denn das für ein lustiger Wuschelkopf! Und so ein schönes Gelb, wie die Sonne! So will ich auch aussehen!“

Aber der Löwenzahn seufzte:

„Ach, liebes Gänseblümchen! Ich sehe zwar lustig aus, aber ich bin sehr traurig. In meinem Stängel ist eine Flüssigkeit, und wenn Kinder mich in den Mund stecken, kriegen sie davon Bauchweh. Schon wenn ich daran denke, muss ich weinen. Ich will doch niemandem etwas Böses tun.“

Das Gänseblümchen überlegte eine Weile, dann riss es sich drei Blütenblätter aus, machte einen Behälter daraus und sagte:

„So, Löwenzahn! Hier kannst du dein Gift reintun. Ich werde gut darauf aufpassen, und wenn mich einmal eine Kuh frisst, nehme ich’s mit. Die Kuh verträgt das besser als die Kinder.“

Der Löwenzahn freute sich unbändig, und er lud das Gänseblümchen noch zum Abendessen ein. Sie aßen zusammen ein bisschen Erde und tranken einen Schluck vom besten Tauwasser, das der Löwenzahn vorrätig hatte – „für ganz besondere Festtage“.

Sie redeten bis spät in die Nacht, und als sie am nächsten Morgen aufwachten, sagte das Gänseblümchen zum Löwenzahn:

„Lieber Löwenzahn, ich wollte zuerst auch so schön wuschelig aussehen wie du. Aber ich habe gemerkt, dass auch das seinen Preis hat. Ich muss weitersuchen.“

Der Löwenzahn wünschte dem Gänseblümchen alles Gute für seine Suche, und sie verabschiedeten sich herzlich voneinander. Dann schulterte das Gänseblümchen das Paket mit dem Löwenzahngift und ging weiter.


Die Sonne brannte heiß vom Himmel, aber das machte dem Gänseblümchen nichts aus. Es dachte die ganze Zeit vergnügt an seinen neuen Freund, den Löwenzahn, und an die Holunderblüten und die Rose.

Da sah es um die Mittagszeit etwas Blaues am Wegrand. Fasziniert kam es näher, denn so eine wunderschöne Farbe hatte es noch nicht gesehen.

„Was bist denn du für eine Blume? Ach, ist das eine schöne Farbe! Wenn ich nur auch so aussehen könnte!“

Die Blume flüsterte schwach:

„Ich bin ein Veilchen. Was hilft mir meine schöne Farbe? Seit Tagen ist es so heiß, ich bin am Verdursten. Du hast es gut, Gänseblümchen, du bist viel anspruchsloser als ich. Was machen dir schon die paar Tage Trockenheit aus? Aber ich – wenn es bis heute Abend nicht regnet, bin ich vertrocknet.“

Bestürzt überlegte das Gänseblümchen, was es machen könnte, um dem Veilchen zu helfen. Schließlich riss es sich noch einmal drei Blütenblätter aus und machte einen neuen Behälter daraus.

Das Löwenzahngift stellte es beim Veilchen ab und sagte:

„Pass gut darauf auf, dass es kein Kind in den Mund bekommt, sonst kriegt es Bauchweh! Ich gehe für dich Wasser holen.“

Dann ging es los, um Wasser zu suchen. Zum Glück war gar nicht so weit entfernt ein kleiner Bach, und das Gänseblümchen lief den ganzen Tag in der glühenden Hitze hin und her, um dem Veilchen Wasser zu bringen.

Am Abend sank es erschöpft neben dem Veilchen auf den Boden und fiel in einen tiefen Schlaf.

Als es am nächsten Morgen ziemlich spät wieder erwachte, sagte das Veilchen zu ihm:

„Ich kann dir gar nicht genug danken, liebes Gänseblümchen! Du hast mir das Leben gerettet. Nun habe ich wieder genug Wasser für die nächsten Tage. Ich werde immer an dich denken.“

Und das Gänseblümchen antwortete nachdenklich:

„Ich habe die Rose um ihre Farbe beneidet, die Holunderblüten um ihren Duft, den Löwenzahn um seinen Wuschelkopf und dich auch um deine Farbe. Aber die Rose hat Stacheln, die Holunderblüten streiten sich, der Löwenzahn macht Kindern Bauchweh, und du leidest unter der Hitze.

Ich glaube, ich bleibe am besten, was ich bin: ein kleines, unscheinbares Gänseblümchen. Etwas zerrupft schaue ich jetzt aus, aber dafür habe ich überall neue Freunde gewonnen und ein paar Blumen glücklich gemacht. Leb wohl, Veilchen! Ich gehe nach Hause.“


Es ging einen ganzen Tag und eine ganze Nacht, bis es wieder zu seiner Wiese kam. Dort stellte es sich auf seinen Platz, begrüßte die aufgehende Sonne mit einem leichten Nicken und freute sich, ein Gänseblümchen zu sein.